Es war einmal
ein kleiner Tag. Er lebte mit seinen Eltern und Geschwistern dort, wo
alle Tage leben, bevor sie auf die Erde kommen, und wo sie auch nachher
bleiben, wenn die Nächte sie wieder von der Erde
verscheucht haben. Kein Mensch weiß, wo dieser Ort
ist, denn wer könnte schon sagen, wo die Tage bleiben, wenn
sie ihren Dienst erfüllt haben? Jeder von ihnen kommt nur ein
einziges Mal auf die Erde. Ein Tag ist einmalig. Und so ist es
natürlich der Höhepunkt im Leben eines Tages, wenn
er auf die Welt zu den Menschen kommt.
Unser kleiner Tag, von dem hier die Rede ist, war
voller Aufregung und Freude,
wenn er an den so wichtigen Zeitpunkt
seiner Erdenreise dachte.
Aber er mußte noch lange warten, denn er würde der
22. November eines ganz bestimmten Jahres sein,
und es war erst Septmber im Jahr davor. Vordrängeln
konnte er sich nicht, denn die Reihenfolge,
in der die Tage die Welt betreten, ist streng festgelegt. So
konnte der kleine Tag nur von seinem zukünftigen Erdengang
träumen,und mit staunenden Augen
hörte er zu, wenn seine Verwandten
von ihrem Besuch auf der Erde erzählten. Sein Vater war ein sehr
berühmter und gefürchteter Tag gewesen, an dem sich ein
grauenhaftes Erdbeben ereignet hatte, das die Menschen noch
Jahrzehnte später nicht vergessen konnten."Die ganze Welt
zitterte", erzählte sein Vater stolz, "und ich bin in allen
Geschichtsbüchern erwähnt." Seine Mutter wurde von
den anderen Tagen ebenfalls sehr respektvoll behandelt. Als sie Tag war, hatten
zwei Völker nach einem langen Krieg endlich Frieden
geschlossen. Immer
wieder wollte der kleine Tag hören, wie sich damals die
Menschen lachend und weinend vor Freude umarmten und wie
schön dieser Tag gewesen sei. Ein Onkel war sehr
stolz darauf, daß er die erste Landung eines Raumschiffes auf
einem fernen Planeten gebracht hatte, und seine Großmutter
konnte gar nicht genug von der Hochzeit eines
Königspaares erzählen, die mit großer
Pracht gefeiert wurde, als sie Tag war. Jeden Abend, wenn ein
Tag von der Erde zurückkam, mußte er genau berichten, was
sich während seiner Amtszeit ereignet hatte.Voller
Begeisterung hörte der kleine Tag Erzählungen von
ruhmreichen Taten, Erfindungen und großen Festen, aber auch
von Schneekatastrophen, Dürre- und Hungerzeiten, von
Flugzeugabstürzen, Explosionen und Gewalttaten. "Es
ist ganz wichtig", sagte sein Vater eines Tages,"daß etwas
Ungewöhnliches passiert, wenn Du auf der Erde bist,
damit man sich an dich erinnert. Sonst ist dein ganzes Leben sinnlos. Dabei
kommt es gar nicht darauf an, ob es etwas Gutes oder Böses
geschieht. Hauptsache, du hinterläßt einen
bleibenden Eindruck auf die Menschen. "Wenn ich einmal auf der
Erde bin", dachte der kleine Tag,"dann wird sicherlich
etwas ganz, ganz Großes
geschehen, etwas, was es noch nie gegeben
hat.
Nicht nur ein kümmerliches Erdbeben oder die Hochzeit eines
Königspaares. Nein, 100
Könige sollen gleichzeitig heiraten, alle Völker der
Erde sollen Frieden schließen und versprechen, niemals wieder Krieg zu
führen. Es wird ein gewaltiges
Feuerwerk geben, weil die Menschen alle
Waffen in die Luft sprengen werden. Auf jedem Stern im
Weltall landet ein Raumschiff, eine riesige Flutwelle
überschwemmt die Hälfte der Erde, und, und ,und..." So träumte der
Kleine Tag unaufhörlich, und es fiel ihm immer
schwerer, seinen großen Auftritt abzuwarten. Schließlich,
nach scheinbar endlosen Monaten und Wochen des Wartens, war der große
Augenblick gekommen. Es war stockfinster,
als der Vater den kleinen Tag rief:
"Es ist soweit.In
einer halben Stunde beginnt der 22. November. Gleich bist Du
ein Tag auf der Erde! Sein Vater begleitete ihn noch ein Stück, damit
er den richtigen Weg fand, und dann war es soweit!
Schrittweise
zog sich die Nacht vor dem kleinen Tag zurück, bis
sie ganz verschwunden war. Der kleine Tag jubelte: "Jetzt
regiere ich die Welt!" Aber schon bald erlebte er die erste
Enttäuschung. Die strahlend goldene Sonne.Von der
sein Vetter im Juli so geschwärmt hatte, war nirgends
zu sehen. Grauer Nebel verhüllte die frühen
Morgenstunden. Alles sah trübe und dunstig aus,
feucht und kalt. Der kleine Tag wollte sich aber nichts daraus
machen, es gab doch soviel Neues, Fremdes und Aufregendes zu
sehen. In allen Städten wälzten sich Tausende von
Menschen durch die Straßen zu ihrer Arbeitsstelle.
Autokolonnen, Busse, Züge, Bahnen - alles
drängte, schob und wimmelte. Der kleine Tag mußte
lachen: Es sah zu lustig aus, wie sie da unten alle in
verschiedenen Richtungen durcheinanderkrabbelten. Er
betrachtete die Menschen genauer. Nein, freundlich sahen sie nicht aus! Die
meisten hasteten mürrisch und lustlos durch die
Straßen, hatten die Mantelkragen hochgeschlagen und sahen grimmig
geradeaus oder zum Boden. Niemand schien den kleinen Tag zu beachten. "Hallo,
hier bin ich!" rief er. "Ich bin heute euer Tag! Freut ihr euch nicht,
mich zu sehen?" Aber die Menschen freuten sich nicht."Was
für ein lausiger Tag", sagte ein Mann zu seinem
Arbeitskollegen. "Dieser widerliche Nieselregen geht mir ganz
schön auf die Nerven." "Ja, abscheulich",
bestätigte der andere."Meine Frau bekommt sicher wieder die
Grippe bei diesem Wetter. Wenn doch bloß die Sonne
ein wenig scheinen würde!" Ja, die Sonne! Wo war
sie? Der kleine Tag konnte sie nirgendwo entdecken. "Bitte,
liebe Sonne", rief er,"komm doch hervor und mache die Welt an meinem
Tag etwas schöner, damit die Menschen nicht alle so
grimmig sind." "Das kann ich nicht", sagte die Sonne, die von
einer graufetten Regenwolke verdeckt wurde. "Ich habe nicht mehr die
Kraft dazu! Komm im Frühling oder besser noch im Sommer wieder, dann will ich so
scheinen,
daß deine Augen geblendet werden. Aber im November bin
ich dazu zu schwach." Der kleine Tag war ganz
verzweifelt."Aber
ich bin doch nur heute!" rief er. "Ich kann doch nicht
wiederkommen.
Nie kann ich wiederkommen. Im Frühling und
im Sommer sind die anderen dran. Bitte, liebe Sonne,
schein doch wenigstens ein ganz kleines
bißchen! Die Sonne
hatte Mitleid mit ihm. Mit aller Kraft
preßte sie ein paar dünne Strahlen hervor. Der kleine Tag hatte so
etwas noch nie gesehen. Er sah verzückt
und verzaubert, wie
die Sonnenstrahlen auf einen Waldweg fielen und sich das Licht in
den Regentropfen spiegelte."Hurra!" rief der kleine
Tag, "freut ihr euch jetzt,
daß ich hier bin?" Doch die Sonne hatte zu
kurz geschienen. Kaum ein Mensch in der
Stadt hatte die wenigen Sonnenstrahlen bemerkt, und jetzt war es wieder
so grau wie zuvor. Allerdings regnete es
nicht mehr, und der Nebel hatte sich
aufgelöst."Immerhin etwas",
tröstete sich der kleine Tag. Aber ein wenig traurig
war er trotzdem noch. Doch was war das? Auf einem Schulhof stand
ein Junge mit einem funkelnagelneuen Fahrrad, umringt von seinen
Klassenkameraden."Woher hast Du denn das
tolle Rad?" fragte einer von ihnen."Na, wißt ihr
denn nicht, was heute für ein Tag ist? Heute ist doch der 22.
November,
und das ist mein Geburtstagsgeschenk!" Der kleine Tag jauchzte. Endlich freute sich
jemand über ihn. "Für diesen
Jungen bin ich der Höhepunkt des ganzen Jahres", dachte der kleine Tag
glücklich. Mit neuem Eifer schaute
er sich auf der Welt um. Er sah das Meer! Die Wellen klatschten
gegen die Felsen am Strand, und die Gischt
sprühte schäumend auf. Es war ein wundervolles
Schauspiel,
von dem sich der kleine Tag kaum losreißen konnte. Sein Blick streifte
über die Berge. Ein
Bergsteiger mühte sich keuchend, einen schneebedeckten Gipfel
zu bezwingen. Als er oben angekommen
war,
lachte er und genoß den weiten Blick ins Tal. Der kleine Tag freute
sich mit ihm.
Er sah viele Städte, und verwundert schaute er den Menschen zu. Offenbar hatten die
meisten nicht viel Freude an ihrer Arbeit. Männer
mit stumpfen Gesichtern betätigten Hebel, Knöpfe und
Schalter. Sie stellten
Gegenstände her, deren Sinn und Zweck der kleine Tag nicht
verstand. In einer
großen Halle standen lange Schlangen wartender Menschen. Sicher gab es dort
etwas Besonderes! Aber nein: Wenn die
Menschen schließlich einen Schalter erreicht hatten, hinter dem ein streng
blickender Mann saß, mußten sie
viele Kreuze in kleine Kästchen auf Papierbögen machen und auch noch Geld
dafür bezahlen. Der kleine Tag wunderte
sich. In einem Park
saß ein Mann auf einer Bank und schrieb. Als er fertig war, sah
er sich zufrieden lächelnd um. Er hatte bestimmt etwas
schönes geschrieben. Der kleine Tag freute
sich.
In einem Fenster stand ein Musiker und pfiff
fröhlich eine kleine neukomponierte Melodie vor sich hin. Der kleine Tag
hätte am liebsten mitgepfiffen. Der Nachmittag brachte
ihm neue Erfahrungen: Spielende Kinder, Leute beim
Spazierengehen, Menschen, die sich zum
gemütlichen Kaffeetrinken zusammenfanden. Er sah einen jungen Mann
an einer Haustür klingeln und ein
hübsches Mädchen herauskommen. Die beiden
faßten sich an den Händen und gingen in einen
Park. Auf der Brücke
über einen kleinen Bach blieb der junge Mann
stehen und sah dem
Mädchen in die Augen."Ich hab' dich lieb!" sagte er und gab ihr
einen Kuß. Dem kleinen Tag wurde
ganz heiß vor Freude. Das war sicher das
allerschönste Erlebnis für ihn hier auf der Erde.
Als die
Dämmerung kam und der kleine Tag
seine Aufgabe erfüllt hatte, eilte er aufgeregt nach
Hause.
Alle Tage hatten sich
schon versammelt und erwarteten gespannt
seinen Bericht."Na,
wie war's?" fragte ihn sein Vater, "bist Du ein guter Tag
gewesen?" "Oh
ja!" rief der kleine Tag, und alle seine
Erlebnisse sprudelten wie ein Wasserfall aus
ihm heraus. "...und dann haben sie
sich geküßt!" rief er am
Schluß seines Berichts ganz atemlos und sah sich
erwartungsvoll in der Runde um. Sein Vater machte nur eine wegwerfende
Handbewegung: "Na ja, das kennen wir
ja alle,
aber nun erzähl mal die interessanten Dinge. Was hat sich denn nun
wirklich ereignet?" Der kleine Tag starrte
ihn fassungslos an. "Aber..." stammelte er,"
das ist alles."Das
ist doch viel, oder?" In den hinteren Reihen
begannen einige ältere Tage zu lachen. Schließlich
lachten sie alle, die ganze Gesellschaft, bis der kleine Tag in
einer riesigen Woge von Gelächter
zu ertrinken drohte. "Was?" rief sein Vater
aufgebracht, es muß doch
wenigstens etwas passiert sein! Ein
Schiffsunglück vielleicht? Oder eine
Flugzeugentführung? Wenigstens ein
Banküberfall?" Der kleine Tag
schüttelte den Kopf. Einsam und traurig
stand er mitten in dem Gelächter. Sein schöner
Tag!
Und sie fanden ihn langweilig und alltäglich - nichts
Außergewöhnliches war passiert, war
geschehen.
Er hätte vor Scham versinken mögen. "Nicht mal ein..."
begann sein Vater noch einmal, aber er fragte nicht
weiter. Der kleine Tag tat ihm
leid."Ein
Nichts bist du!" schrie der Onkel, der die
Raumschifflandung auf dem fernen Planeten erlebt hatte, "ein Nichts! Schon morgen hat man
dich auf der Erde vergessen! Kein Buch wird dich
erwähnen, kein Mensch wird sich an Dich erinnern! Geburtstag! Sonne! Liebe! Daß ich nicht
lache!" "Ist Liebe denn nichts
ungewöhnliches, Schönes?" wollte der kleine Tag
fragen - aber er traute sich nicht mehr. Er fürchtete
die Hänseleien und den Spott der anderen. "Komm mit und ruh' dich
aus", sagte der Vater und zog
ihn fort.
"Und ihr macht euch nicht über meinen Sohn lustig!" rief er giftig den
versammelten Tagen zu. Die Mutter versuchte
ihn zu trösten: "Sei nicht traurig. Du bist ein guter Tag
gewesen und hast sehr schöne
Dinge auf der Erde gesehen. Weißt du, es
kommt gar nicht darauf an, daß
möglichst viele Menschen sich an einen Tag erinnern. Wenn Du nur ganz wenigen eine Freude geschenkt
hast, dann hat sich dein
Erdendasein schon sehr gelohnt." Aber der kleine Tag war
nicht zu trösten. In den kommenden Tagen
und Wochen wurde er überall belacht und verspottet. Er nahm auch nicht mehr
an den abendlichen Versammlungen teil. Er wollte nicht
hören, was die anderen Tage zu berichten hatten. Einsam saß er
in seiner Ecke und machte sich bittere Vorwürfe. Dabei war es doch gar
nicht seine Schuld. Eines Abends jedoch,
viele einsame Tage, Monate später,
riefen ihn seine Eltern: "Denk dir, einer deiner
Neffen kam gerade von der Erde
zurück und hat berichtet, daß heute ein
Beschluß gefaßt wurde, den 22. November zum
internationalen Feiertag zu erklären. Und weißt du,
warum? Weil an deinem 22.
November,
als du auf der Erde warst, nichts Böses geschehen ist, kein Verbrechen
verübt wurde, nirgendwo auf der Erde
Kämpfe waren. Eben darum, weil nicht
Ungutes passiert ist, soll von nun an jedes
Jahr an deinem Tag das Fest des Friedens
gefeiert werden. Heute stand es auf der
Erde in allen Zeitungen. Ja, wir wußten
doch immer, daß Du etwas taugst!" Der kleine Tag sagte
gar nichts. Er strahlte!